Ibbenbürener Landwirt läuft mit Querschnittslähmung

Dieter Bäumer ist Landwirt und kann seit 2010 nicht mehr laufen. Seitdem sitzt der 62-Jährige im Rollstuhl. Dank neuester Technik kann er heute aber wieder pflügen und sogar etwas laufen.

Re-Walk“ – so heißt das Gerät, das es dem Landwirten ermöglicht, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Ein sogenanntes Exo-Skelett. Es wird um die Beine geschnallt und über Motoren gesteuert. Damit kann Bäumer heute schon wieder kleinere Strecken zu Fuß gehen.

Aktuell trainiert er jeden Montag und Dienstag mit dem Lauf-Roboter in der Lengericher Helios-Klinik – noch mit Hilfe eines Therapeuten und unterstützt durch Gehhilfen, aber „langfristig will ich dieses Ding auf jeden Fall beherrschen und damit über den Hof spazieren gehen„, sagt der 62-Jährige zuversichtlich.

Von heute auf morgen gelähmt

Vor 13 Jahren hat ihn ein schwerer Unfall auf dem Hof aus dem Leben gerissen. Damals ist er bei Reparaturarbeiten auf einer Scheune vom Dach gestürzt. Von heute auf morgen konnte er nicht mehr laufen. Ein harter Einschnitt im Alltag des Landwirts.

„Querschnitt ist ein neues Leben. Anfangs dachte ich, ich komme nie wieder auf den Acker. Das waren schon harte Gefühle.“  Dieter Bäumer, Landwirt

Aufgeben kam für ihn aber nie infrage. Mühsam aber stets positiv gestimmt hat er sich zurück ins Leben gekämpft. Heute kann er auch wieder mit seinem Traktor über den Acker fahren. Mit der alten Landmaschine wäre das nicht möglich gewesen, doch die ist kurz nach seinem Unfall plötzlich kaputt gegangen.

Da hat der liebe Gott anscheinend doch noch etwas mitgeholfen, denn es musste ein neuer Trecker her.“ Und der ist speziell für ihn umgebaut. So kann Bäumer mit den Händen bremsen. Und mit einer Art Aufzug fährt der Familienvater hoch ins Fahrerhaus.

Dass ich jetzt hochfahren kann, das ist ein Wahnsinnsgefühl. Endlich kann ich wieder mit dem Trecker pflügen – das ist für mich eine riesige Erleichterung.“ Auch seinem Sohn kann er so wieder mehr unter die Arme greifen. „Der sagt dann, ‚Papa, da vorne ist der Acker – zehn Hektar. Sieh zu, dass du fertig wirst.‘“ Und der leidenschaftliche Landwirt ist froh, dass er solche Arbeiten wieder übernehmen kann.

„Mein Weg ist auf jeden Fall nicht der Jammer-Weg, da habe ich keine Lust drauf.“  Dieter Bäumer, Landwirt

Der Blick immer nach vorne

Ein höhenverstellbarer Rollstuhl erleichtert Bäumer den Alltag

Bäumer bedient sich aller möglichen Hilfsmittel, um seinen Alltag so selbstständig wie möglich zu bestreiten. Auch im eigenen Hofladen hilft der 62-Jährige mit. Wenn mal etwas zu weit oben steht, dann wird der Rollstuhl einfach hochgefahren. So kommt er an alles dran. Und auch an Gesprächen mit seinen Freunden kann er so viel besser teilnehmen – auf Augenhöhe.

Quelle: https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/landwirt-querschnittlaehmung-laufen-106.html

Echte Inklusion:„Behinderte Menschen können die Gesellschaft voranbringen“

Sie sind kreativ und gehen flexibel mit Problemen um, dennoch werden Menschen mit Behinderung diskriminiert und unterschätzt – nicht nur auf dem Arbeitsmarkt.

Irgendwann die „Tagesschau“ zu moderieren, diesen Traum gibt Laura Mench nicht auf. Die 25-Jährige wollte schon immer beim Fernsehen arbeiten. Oder Radiosendungen machen – wie vor einer Weile beim Berliner Jugendsender Fritz. „Hinter dem Mikrofon hatte ich das Gefühl, frei in die Welt sprechen zu können“, erzählt sie.

Anfang 2020 lernte Laura Mench gerade die Arbeit einer Printredakteurin für Fernsehen und Radio kennen, als Corona plötzlich ihre Pläne durchkreuzte. Alle Praktika wurden von den Redaktionen abgesagt.

Teilweise hatte sie auch selbst große Sorgen. Aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung des Nervensystems ist Laura Mench auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. „Es fehlte an Schutzmöglichkeiten. Ich werde zum Beispiel beatmet, ein Praktikum vor Ort wäre viel zu
riskant gewesen.“

Obwohl sie ihren Traumjob als Moderatorin noch nicht ausüben kann: Angst, gehört oder gesehen zu werden, hat Laura Mench definitiv nicht. „Ich bin nicht die Person für eine klassische Leidensgeschichte“, stellt sie klar. Kritisch über die Dinge nachzudenken, sagt Mench, gehe schließlich auch, ohne sich ständig auf das Leid zu fokussieren.

Ich bin nicht die Person für eine klassische Leidensgeschichte. –Laura Mench, Aktivistin

Dabei machten die vergangenen drei Corona-Jahre äußerst deutlich, an welchen Stellen die Inklusion hierzulande immer noch an ihre Grenzen stößt. Dass Menschen mit Behinderung weiterhin mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen haben, zeigt das aktuelle Inklusionsbarometer Arbeit, das die Aktion Mensch am Mittwoch vorstellte.

Die Arbeitslosenquote sinkt 
Die gute Nachricht: Nach Jahren der Krise sinken die Arbeitslosenzahlen wieder. 2021 lag die Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen bei 11,5 Prozent. Zum Vergleich: 2020 waren es 11,8 Prozent.

Gleichzeitig verschärfe sich jedoch die Langzeitarbeitslosigkeit. Mit einem Anteil von 47 Prozent im vergangenen Jahr sei nahezu die Hälfte (80.000) aller arbeitslosen Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung, heißt es in der Erhebung. Dies bedeute ein Plus von über fünf Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Erholung und Fortschritt der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt  scheiterten dabei insbesondere an der
Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen. Das bekam auch Laura Mench zu spüren. Eine Zeit lang schlug sie sich als freie Autorin durch, dann meldete sie sich arbeitssuchend. Doch ihre Hoffnung, einen passenden Job zu finden, wurde schnell enttäuscht: Die Vorschläge der Arbeitsagentur passten überhaupt nicht zu ihr. Mench hätte etwa Gabelstapler fahren sollen, dabei hat sie nicht einmal einen Autoführerschein. „Das habe ich bis heute nicht verstanden. Aber das Angebot war ernst gemeint“, berichtet sie. Behinderung, das zeigt dieses Beispiel, hat auch eine soziale Dimension. Eine Person ist nicht nur behindert, sondern wird auch gesellschaftlich behindert – durch Bordsteine, Klischees oder eben Berufsvorschläge, die individuelle Fähigkeiten nicht berücksichtigen.

Ableismus und seine Folgen 
Für Ableismus, also die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, möchte Laura Mench nun als Aktivistin auf ihrem Blog „Projekt Leben“ sensibilisieren. Seit einem Jahr arbeitet sie auch beim Verein „Aktiv und selbstbestimmt e.V.“ und unterstützt dort Menschen mit Behinderung. Durch die Anfragen, die sie auf ihrem Blog bekomme, sei sie sowieso schon in die Beratungsarbeit hineingerutscht. „Ich bin aktivistisch viel in der außerklinischen Intensivpflege unterwegs“, sagt die junge Frau. 11,5 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen. Damit ist sie doppelt so hoch wie die der Nichtbehinderten.
Denn auf Ableismus stoßen behinderte Menschen nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in vermeintlich geschützten Räumen wie Pflegeeinrichtungen. Als Laura Mench aus einem süddeutschen Internat nach Berlin zog, entschied sie sich bewusst dafür, in den eigenen vier Wänden zu wohnen. „Wenn ein Mensch mit Behinderung sich aber für ein Leben im Heim entscheidet, ist das sein Recht. Beide Wege sind okay. Auch das ist Selbstbestimmung“, sagt sie.

In der Berichterstattung über Gewalt in Behindertenheimen wird die Perspektive behinderter Menschen bis heute kaum aufgegriffen. – Raúl Aguayo-Krauthausen

Dass insbesondere das Leben in stationären Wohneinrichtungen ein Risikofaktor für Gewalt an behinderten Menschen sein kann, belegt das Projekt #AbleismusTötet. Die Dokumentation von bisher 41 Gewaltfällen in 37 deutschen vollstationären Wohneinrichtungen zeigt: Fehlende Selbstbestimmung bietet einen Nährboden für psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt. Projektleiter und Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen findet es unmöglich, „dass bis heute kaum die Perspektive behinderter Menschen in der Berichterstattung über Gewalt in Behindertenheimen aufgegriffen wird“. Ständig sei von Einzelfällen die Rede, dabei sei Gewalt in Heimen strukturell – und diese Struktur muss abgeschafft werden. Seit der Pandemie bekommen Inklusionsaktivisten wie Raùl Aguayo- Krauthausen und Lukas Krämer mit seiner Mindestlohn-Petition #StelltUnsEin! immerhin etwas mehr Aufmerksamkeit. Laura Mench macht diese Erfahrung auch. „Was sich vielleicht verändert hat, ist die mediale Präsenz“, sagt sie. Dabei waren sie alle auch schon früher in der Behindertenbewegung aktiv, haben Veranstaltungen moderiert und Blogbeiträge geschrieben. Dass dieses mediale Schlaglicht auf die Belange von Menschen mit Behinderung langfristige gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringt, daran glaubt die Aktivistin allerdings nicht wirklich.

Digitalisierung als Chance 
Eine positive Entwicklung, die während der Pandemie einen Schub erfahren hat, ist hingegen die Digitalisierung der Arbeitswelt. Für behinderte Menschen birgt das große Chancen. Die Mentorin und Speakerin Karen Schallert sieht darin sogar einen Schlüssel zu mehr Teilhabe und Inklusion – ob mit Pandemie oder ohne. Aufgrund der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) ist sie selbst auf einen Rollstuhl angewiesen und berät mit HandicapUnlimited Akademiker:innen mit Behinderung.

Weltweiter Aktionstag 
Um auf die Lebenssituation und Belange von behinderten Menschen aufmerksam zu machen und gleichzeitig deren Teilhabe und Gleichstellung zu fördern, haben die Vereinten Nationen im Jahr 1992 den 3. Dezember zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen erklärt. Ungefähr 15 Prozent der Weltbevölkerung haben laut Angaben der Vereinten Nationen Behinderungen. Allein in Deutschland leben 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Anlässlich des Aktionstages beschloss das Bundeskabinett am Mittwoch Eckpunkte für eine „Bundesinitiative Barrierefreiheit – Deutschland wird barrierefrei“. Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil (SPD) nannte als Ziel, „das Leben von Menschen jeden Tag zu vereinfachen“. Schwerpunkte seien die Bereiche Mobilität, Wohnen, Gesundheit und Digitales. Aus ihrer Sicht ist die gegenseitige Rücksichtnahme hinsichtlich Einschränkungen in letzter Zeit gewachsen. Und es gebe mehr Anerkennung für besondere Fähigkeiten: „Wer eine körperliche Beeinträchtigung hat, kann Dinge besser delegieren und so Schwächen kommunizieren“, sagt Schallert. So verändere Inklusion auch Unternehmenskulturen und das gesellschaftliche Miteinander. „Durch die vielen alltäglichen Herausforderungen haben behinderte Menschen einen flexibleren Umgang mit Problemen. Sie sind kreativ, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, und können so die Gesellschaft als Ganzes voranbringen“, betont sie.

Auch Laura Mench ist froh, dass sie ihre Vorträge bequem von zu Hause halten kann. „Ich hoffe, dass es nachhaltig so bleibt“, sagt sie. Und vielleicht kann sie bald auch mal Podcasts aufnehmen oder gar ihre eigene Radiosendung aus dem Wohnzimmer starten.

Quelle: Tagesschau – von Luca Klander